Sieg vor Landesgericht Mannheim: „From the River to the Sea – Palestine will be Free” ist legitime Meinungsäußerung!
Zeitgleich: BKA durchsucht Wohnungen von Personen, die den Ausspruch online verwendet haben sollen!
Zunächst ein Sieg: Ein weiteres Gericht hat ein bedeutendes Urteil zum Spruch „From the River to the Sea – Palestine will be Free“ (FTRTTS) gefällt. Ein Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Karlsruhe gegen einen Palästinenser wurde abgelehnt. Er hatte auf einer Demo am 21.05.23 den Spruch FTRTTS auf einem Schild getragen, was aus Sicht der Staatsanwaltschaft den Tatbestand „Verwenden von Kennzeichen terroristischer Organisationen“ erfülle. FTRTTS sei eine Parole der Hamas. Das hat das Landgericht Mannheim als unbegründet bestätigt: Die Parole ist nach Ansicht des Gerichts nicht der Hamas zuzuordnen und von der Meinungsfreiheit gedeckt. Am Ende dieses Posts findet ihr Details zum Urteil.
Während wir von diesem Urteil erfuhren, mussten wir uns gleichzeitig aber mit der anhaltenden, absurden Kriminalisierung des Ausspruchs befassen: Bundesweit gab es gestern Hausdurchsuchungen bei Personen, denen zugeordnet wird, die Parole online gepostet zu haben. Das Bundeskriminalamt (BKA) bezeichnet den Ausspruch als „antisemitisch“ und Ausdruck von „Hasskriminalität“.Der Ausspruch wird in eine Reihe mit faschistischen Aussprüchen gestellt, aufgrund derer ebenfalls Hausdurchsuchungen stattfanden. 70 Wohnungen wurden auf Befehl des Bundeskriminalamts im Rahmen eines „bundesweiten Aktionstag gegen Hass und Hetze“ durchsucht und die Parole FTRTTS in diesem Zuge als antisemitische Äußerung und Kennzeichen terroristischer Organisationen gebrandmarkt. Wie viele Wohnungen in Zusammenhang mit Aktivitäten zu Palästina durchsucht wurden, ist aktuell noch unbekannt. Wir wissen aktuell nur gesichert von Hausdurchsuchungen in Frankfurt (siehe Instagram-Post von @freepalestine_ffm) und in Hamburg (siehe Instagram-Post von @thawra_hamburg), beides wegen der alleinigen Verwendung der Parole. Falls ihr von weiteren Hausdurchsuchungen wisst, meldet euch bitte bei dem ELSC oder bei uns vom Kufiya Netzwerk! Wir sammeln die Fälle zur Aufarbeitung und können bei Bedarf Anwälte vermitteln.
Die kriminalisierte Parole diente also einmal mehr als Vorwand, um Wohnungen von Palästina-Aktivist:innen durchsuchen zu können. Die Exekutive in diesem Land ignoriert Gerichtsurteile zur Rechtmäßigkeit von Protest und Solidarität für Palästina so lange, wie nur möglich – teilweise unter explizitem Bruch von geltendem Recht. Das sehen wir nicht nur bei FTRTTS. Wir müssen also auch trotz des Urteils in Mannheim weiter mit willkürlichen Anzeigen zu FTRTTS rechnen, aber rechtskräftige Verurteilungen dazu werden immer unwahrscheinlicher. Bisher gab es bundesweit keine einzige! Das Urteil des Landgerichts ist eine Entscheidung in einem spezifischen Einzelfall, aber dieses Urteil hat Gewicht und kann bundesweit jetzt als Verweis in anderen laufenden Prozessen dienen.
Das Urteil zeigt, dass ihre Kriminalisierung rechtlich auf tönernen Füßen steht! Die Legalisierung von FTRTTS ist mit dem Urteil noch lange nicht Realität, aber wieder ein Stück näher gerückt!
Wir haben das Gerichtsurteil des Landgericht Mannheim mit der Erlaubnis des Betroffenen anonymisiert hier hochgeladen, damit sich jeder selbst damit vertraut machen kann.
Hier zusammengefasst die wichtigsten Gründe, weshalb das Gericht FTRTTS nicht als Kennzeichen terroristischer Organisationen ansieht:
- Die Parole ist nicht der Hamas zuzuordnen:
- Die Parole sei ein „Ausdruck einer politischen Gesinnung“ und zielte bei seiner Entstehung nach Ansicht des Gerichts „auf die Errichtung eines säkularen, demokratischen und egalitären Staates in ganz Palästina ab, in dem die Juden volle Gleichberechtigung genießen sollten, aber ohne die Privilegien des Zionismus“. Wegen seiner politischen Offenheit könne sich heute praktisch jeder Palästinenser und Unterstützer der palästinensischen Sache mit dem Spruch identifizieren. Mit dem Spruch an sich sei keine bestimmte politische Vorstellung hinsichtlich der Befreiung Palästinas verbunden. (S. 4-5)
- Die Hamas verwendet den Spruch in dieser Form weder in seiner Charta von 1988 noch von 2017. Das Gericht sieht es als unerwiesen an, dass die Hamas den Spruch überhaupt irgendwo als Parole, als „motivierenden Leitspruch“ verwendet hat. (S. 7)
- Die Parole ist mindestens in diesem Einzelfall von der Meinungsfreiheit gedeckt:
- Selbst wenn der Ausspruch als Kennzeichen einer verbotenen Organisation verwendet wird, aber in einer Weise, „dass es nicht ausschließlich auf die verbotene Vereinigung hinweist, sondern einen anderen Sachverhalt zum Gegenstand z.B. der öffentlichen Meinungsbildung machen soll, kann wegen des hohen Stellenwerts von Art. 5 GG ebenfalls die Sozialadäquanzklausel greifen“. (S. 9)
- Das Gericht betont unter Verweis auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs darauf, dass bei verbotenen, aber mehrdeutigen Kennzeichen, „der mit dem Gebrauch des Kennzeichens verbundene Aussagegehalt anhand aller maßgeblichen Umstände des Falles ermittelt“ werden muss (S. 12).
- Beim Versammlungsgeschehen der Nakba-Demo in Mannheim habe „jeglicher Bezug zur HAMAS sowie Anhaltpunkte für die Verwendung des Ausspruchs zu deren Unterstützung“ gefehlt (S. 10). Im Kontext der Nakba-Demo sollte mit dem Ausspruch nach Ansicht des Gerichts auf „die Situation der bis heute fehlenden Autonomie Palästinas zum Gegenstand der öffentlichen Meinungsbildung gemacht werden, was durch Art. 5 Abs. 1 GG bzw. die auch der Verwirklichung dieser Grundrechte dienende Sozialadäquanzklausel gedeckt ist.“ (S. 11)
- Das Landgericht weist zudem darauf hin, dass „wegen der Anknüpfung des Verbots der spezifischen Parole an eine politische Meinung bereits erhebliche Zweifel erhoben worden sind, ob das Verbot mit Art. 5 Abs. 1 GG vereinbar ist und nicht auch gegen die staatliche Neutralitätspflicht und das Diskriminierungsverbot verstößt.“ (S. 7)