Aufruf des Kufiya-Netzwerks zur Aktionswoche vom 30.09. – 07.10. – mit historischem Kontext
Aufruf und Kontext als PDF
Aufruf als PDF
Historischer Kontext als PDF
Über 100 Jahre zionistischer Siedlerkolonialismus in Palästina, 56 Jahre israelische Besatzung des Gaza-Streifens, 16 Jahre grausame Blockade gegen Gaza und wiederholte Bombardierungen seit 2008 gehen dem 7. Oktober voraus. Vor allem westliche Medien geben ihr Bestes, diesen Kontext auszublenden und stattdessen die Propaganda der israelischen Besatzung zu verbreiten.
Seit dem 7. Oktober 2023 wurde die Vertreibung und Massakrierung, die die Besatzungsmacht seit der Nakba von 1948 gegen das palästinensische Volk ausübt, auf ihr bisher höchstes Eskalationslevel gehoben. Das verdeutlicht, dass es dem siedlerkolonialen Staat um die Auslöschung des palästinensischen Volks geht. Mindestens 40.000 Menschen wurden durch die Bombardierungen getötet und ca. 200.000 durch Hunger, Krankheiten und fehlende medizinische Versorgung, alles Folgen der israelischen Vernichtungsblockade.
Gleichzeitig wurde ein Propagandakrieg gestartet: Der 7. Oktober wurde als geschichtslos dargestellt, seine Einordnung in den historischen Kontext verweigert und längst widerlegte Lügen über Gräueltaten palästinensischer Kämpfer werden bis heute verbreitet, um Palästinenser*innen zu entmenschlichen, ihren Widerstand zu delegitimieren und letztendlich den Genozid in Gaza zu rechtfertigen.
Deutschland unterstützt den Völkermord durch seine Außen- und Innenpolitik. Nach außen zeigt sich die Komplizenschaft in Waffenlieferungen und politischer Unterstützung für Israel. Im Inneren führt Deutschland eine massive Repressionskampagne gegen palästinasolidarische Proteste und Organisationen. Willkürliche Verhaftungen, Polizeigewalt, staatliche Überwachung, politische Kündigungen, Hausdurchsuchungen, das Verbot von Organisationen, die Sperrung von Bankkonten, die Repression an den Universitäten und die gleichgeschaltete Medienberichterstattung sind unübersehbarer Ausdruck der kolonialen Kontinuität des Staates und gesellschaftlicher Institutionen.
Wir können nicht tatenlos einem Genozid zuschauen, noch weniger wollen wir uns indirekt daran beteiligen. Die israelische Besatzung zerstört sämtliche Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, Wohngebiete, und jegliche Infrastruktur, die als Lebensgrundlage der Palästinenser*innen dient. Ihr Ziel ist die Auslöschung Gazas von den Karten und die Vernichtung des palästinensischen Volks.
Wir rufen als Kufiya Netzwerk palästinensische und palästina-solidarische Gruppen und Strukturen bundesweit dazu auf, in der Woche vom 30. September bis 7. Oktober 2024 auf die Straßen zu gehen und Aktionen zu organisieren.
Wir wollen uns darauf konzentrieren, den 7. Oktober in seinen historischen Kontext einzubetten und die desinformierende Rolle deutscher Medien aufzeigen. Wir stellen uns gegen die Verbreitung von Falschinformationen und die Relativierung israelischer Kriegsverbrechen durch deutsche Medien und Politik.
Für die Aktionswoche bieten wir euch Infomaterialien und Aktionsvorschläge an und fordern alle solidarischen Gruppen und Menschen auf, sich uns für die Aktionswoche und darüber hinaus anzuschließen! Als breite, geeinte Bewegung stehen wir gegen Genozid, für ein Ende der Besatzung und ein freies Palästina. Viva, Viva Palästina!
Die Geschichte von 76 Jahren Vertreibung und Kolonisierung
Der 7. Oktober kann nicht außerhalb des Kontexts jahrzehntelanger Gewalt in Palästina und insbesondere Gaza – dem größten Freiluftgefängnis der Welt – gesehen werden.
Im Zuge der Gründung Israels 1948 wurden über 800.000 Palästinenser vertrieben, getötet, inhaftiert, Opfer von Gewalt und Vergewaltigung. Palästinenser bilden seitdem die größte Flüchtlingsgruppe (prozentual zur Bevölkerung). Die Nakba, wie die Palästinenser dieses Ereignis nennen, bedeutet heute: 76 Jahre ethnische Säuberung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Apartheid und Willkür. Israel ist damit seit seiner Staatsgründung eine Siedlerkolonie, die sich nur aufgrund der anhaltenden Unterdrückung bis heute gehalten hat. Nahezu 75 Prozent der heutigen Bewohner Gazas wurden 1948, während der Nakba vertrieben und sind damit Flüchtlinge aus ganz Palästina sowie deren Nachfahren. Israel verweigert ihnen das Recht auf Rückkehr, das durch die Resolution 194 der UN-Generalversammlung im Jahr 1948 anerkannt und 1974 mit der Resolution 3236 als unveräußerlich beschlossen wurde.
Blockade Gazas seit 2007
Seit den 90er Jahren schränkt Israel die Bewegungs- und Handelsfreiheit der Bevölkerung Gazas massiv ein. Diese Einschränkungen wurden ab 2007 massiv verschärft, als Israel eine völkerrechtswidrige Land-, See- und Luftblockade über den Gazastreifen verhängte, die vom ägyptischen Regime unterstützt wird. Diese Blockade führte zur Zerstörung der Wirtschaft und Infrastruktur in Gaza. Gazas Bauern haben gerade einmal Zugang zu einem Drittel des Ackerlandes. Fischer dürfen nur in 15 Prozent der Gewässer fischen. Die Bevölkerung Gazas erhielt fortan nur so viele Kalorien, dass sie gerade überleben konnte. Niemand kann ohne israelische Genehmigung in den Gazastreifen ein- oder ausreisen. Eine sechs Meter hohe Mauer und Sperranlage umgibt Gaza.
Hunger als Waffe der Besatzungsmacht
Bereits 2012 warnte ein UN-Bericht mit dem Titel “GAZA IN 2020 – A liveable place?” davor, dass das Gebiet bis 2020 unbewohnbar werden würde: Das Vorenthalten lebensnotwendiger Güter durch die israelische Besatzung, führe laut UNCAT (2015) dazu, dass Gaza ab 2020 als unbewohnbar einzustufen sei. Ein entscheidender Faktor ist die katastrophale Wasserversorgung. Israel kontrolliert seit 1967 die gesamte Wasserinfrastruktur Gazas. Trinkwasser wurde durch die Besatzungsmacht absichtlich kontaminiert und ein Großteil ist heute ungenießbar. Israel nutzt die Kontrolle über Nahrungsmittel und insbesondere Wasser als Druckmittel gegen Gazas Bevölkerung. Dieser stehen täglich 20 – 35 Liter Wasser pro Person zur Verfügung. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt mindestens das Dreifache zum Überleben. In Israel hingegen liegt der Wasserverbrauch pro Person bei über 300 Litern pro Tag. 90 % des Wassers fließen an israelische Kolonialsiedler, nur 10 % gelangen nach Gaza und ins Westjordanland. Die Menschen in Gaza leiden seit mindestens 2008 unter Hunger, da die Einfuhr von UN-Hilfslieferungen streng reglementiert wird. Israel schätzt den Kalorienbedarf der palästinensischen Bevölkerung und lässt nur die Einfuhr einer genehmigten Menge an Lebensmittellieferungen zu. Die Situation seit dem 7. Oktober hat sich extrem verschärft.
2020 erfüllten sich die warnenden Prognosen. Mehr als eine halbe Million der 2,3 Millionen Einwohner lebten unter der absoluten Armutsgrenze. Fast eine Million waren auf UN-Lieferungen angewiesen. 90 % des „Trinkwassers“ in Gaza waren ungenießbar. Strom gab es nur für zwei bis vier Stunden am Tag, was die Lagerung von Lebensmitteln und Medikamenten unmöglich machte. Die Gesundheitsversorgung brach zusammen, und selbst einfach zu behandelnde Krankheiten breiteten sich aus.
USA als Schutzpatron von Annexion und Apartheid
Auch die geopolitische Lage verschärfte die Situation in Palästina. Am 6. Dezember 2017 erkannte die USA unter Präsident Trump Jerusalem als unbegrenztes Hoheitsgebiet Israels an und verlegte die US-Botschaft nach Jerusalem. Das Generalkonsulat und die diplomatische Mission nach Palästina wurden aufgelöst. Vier weitere Staaten folgten dem Beispiel. 2019 erkannten die USA zudem die israelische Annexion der Golanhöhen an. Dieses Vorgehen offenbart die wahren Absichten der Supermacht, die sich als Hauptvermittler im sogenannten “Nahost-Friedensprozess” darstellt. Nach dem Völkerrecht ist Palästina weiterhin unter illegaler israelischer Besatzung. Israels Status als Apartheidsregime wurde jüngst vom Internationalen Gerichtshof (IGH) bestätigt. Mit den “Abraham Accords” im Jahr 2020 wurde ein Vertrag zur „Normalisierung“ von Beziehungen arabischer Staaten mit Israel abgeschlossen, was die diplomatische Unterstützung für palästinensische Ansprüche auf ihr eigenes Land beendete.
Massaker an friedlichen Protesten 2018
Zwischen März 2018 und Dezember 2019 demonstrierten tausende Palästinenser wöchentlich an der illegalen „Iron Wall“, die Gaza vom Rest Palästinas trennt. Ihr Hauptanliegen war die Aufhebung der Blockade und das Recht auf Rückkehr. Der friedliche Protest, Great March of Return genannt, wurde von Israel in ein blutiges Gemetzel verwandelt. Der willkürliche Beschuss der israelischen Truppen tötete 200 Menschen, darunter viele Kinder, und verletzte mehr als 29.000 Palästinenser, oft so schwer, dass sie ein Leben lang körperlich behindert bleiben. Aufgrund der hohen Opferzahlen musste der gewaltlose Protest eingestellt werden. Die regelmäßige und massive Gewalt gegen die Protestierenden wurde von großen Teilen der internationalen Gemeinschaft ignoriert und blieb für Israel ohne Konsequenzen.
„Rasenmähen“, „Unkraut“ – Taktik der Vernichtung
Im Jahr 2021 führten palästinensische Proteste – bekannt als die dritte Intifada – gegen israelische Übergriffe und illegale Enteignungen zu einer erneuten Militäroffensive Israels. Die eingesetzte Strategie, die von Israel als „Rasenmähen“ bezeichnet wird, sollte die als „Unkraut“ angesehene palästinensische Bevölkerung zur Aufgabe ihres Widerstands bringen, ohne ihnen eine langfristige politische Lösung zu bieten. Die massive Gewalt und rücksichtslose Tötung von Zivilisten entsprach der Taktik, die Israel 2006 im Libanon-Krieg formulierte und seitdem unter dem Namen Dahiya-Doktrin anwendet. Diese besagt, dass extreme, disproportionale Gewalt und der gezielte Angriff auf Zivilisten und zivile Infrastruktur gerechtfertigt seien.
Koloniale Fremdherrschaft
Für die Palästinenser bleibt ein menschenwürdiges Leben unerreichbar, die Unterdrückung geht weiter, und die Mauer symbolisiert die koloniale Fremdherrschaft. Seit 2015 verabschiedete die UN mehr als 140 Resolutionen in denen Israels völkerrechtswidriges Verhalten kritisiert wird – mehr als doppelt so viele, wie gegen alle anderen Staaten in der gleichen Zeit zusammen. Israel interessiert dies nicht, genauso wenig wie die USA und den Westen, der sich selbst als “zivilisiert” bezeichnet. Sie unterstützen und finanzieren die Besatzung. Wo vorher palästinensische Häuser standen, gibt es heute israelische Siedlungen, die auf den Trümmern dieser Gebäude errichtet wurden.
Permanente Dämonisierung der Palästinenser
Rund 10 % der palästinensischen Bevölkerung lebt noch in ihrem angestammten Gebiet innerhalb der sogenannten „grünen Linie“. Dies ist das Gebiet, das ihnen durch die völkerrechtswidrige Resolution 181 entzogen wurde. Der IGH stellte 2004 fest, dass die Resolution 181 nie umgesetzt wurde, da die palästinensische Bevölkerung die Gründung eines Zwei-Klassen-Staates ablehnte. Die permanente Entmenschlichung und Dämonisierung der palästinensischen Bevölkerung in allen Kontexten der israelischen Gesellschaft hat zur Folge, dass von der großen Mehrheit der Israelis inzwischen selbst die Misshandlung oder Tötung palästinensischer Gefangener als gerechtfertigt angesehen wird. Menschenfeindliche Ideologien, wie sie einst von Minderheiten, wie dem verurteilten Terroristen Meir Kahane vertreten wurden, sind längst fester Bestandteil der heutigen israelischen Regierung und Bevölkerung. Übergriffe gegen Muslime an heiligen Orten, wo Parolen wie “Tod den Arabern” gerufen werden, sind schon lange kein Einzelfall mehr.
Tödliche Jahre
Seit Beginn der Blockade führte Israel fünf große Militärangriffe auf Gaza durch (2008, 2012, 2014, 2021, 2023 bis heute). Die Bombardierungen und die Invasionen töteten tausende unschuldige Menschen, zerstörten hunderttausende Wohnhäuser, machten hunderttausende Menschen obdachlos. Eine ganze Generation in Gaza kennt nichts anderes als israelischen Bombenterror. Die Traumatisierung von Kindern und Erwachsenen nimmt kein Ende. Eine politisch nachhaltige Lösung und eine Verbesserung der humanitären Lage bleiben aus. Die Jahre 2022 und 2023 (bereits vor Oktober) gehörten zu den tödlichsten für Palästinenser seit der zweiten Intifada. Diese Bedingungen sind der Grund dafür, dass sich die Menschen in Palästina gegen die Besatzung und den Terror des Siedlerstaates zur Wehr setzen.